Anhang XVI und EU-MDR — Leitfaden zur Regulierung von Produkten ohne medizinische Zweckbestimmung

Auch Produkte ohne medizinische Zweckbestimmung können in Europa unter die Verordnung (EU) Nr. 2017/745 über Medizinprodukte (EU-MDR) fallen, d.h. den Anforderungen an Medizinprodukte unterliegen. Zu solchen Produkten gehören beispielsweise Dermalfüller, Fettabsauggeräte oder nicht korrigierte, farbige Kontaktlinsen, wie in Anhang XVI der EU-MDR aufgelistet. Sie werden gemeinhin als “Anhang XVI Produkte” bezeichnet. Wenn Sie sich nicht sicher sind, ob Ihr Produkt unter Anhang XVI der EU-MDR fällt, oder wenn Sie verstehen möchten, welche Anforderungen für ein Anhang XVI Produkt gelten, lesen Sie weiter.

Wichtigste Erkenntnisse

  • Obwohl der Anwendungsbereich der EU-MDR durch die Zweckbestimmung des Medizinprodukts bestimmt wird, gilt er auch für bestimmte Gruppen von Produkten ohne medizinische Zweckbestimmung, die in Anhang XVI der EU-MDR aufgeführt sind.
  • Produkte ohne medizinische Zweckbestimmung haben möglicherweise auch keinen medizinischen Nutzen. Daher werden die Anforderungen der EU-MDR bezüglich des Nutzen-Risiko-Verhältnisses durch Anforderungen an Sicherheit und Leistung ersetzt.
  • Die Anforderungen an das Qualitätsmanagementsystem (QMS), die PRRC-Qualifikation und die Konformitätsbewertung gelten sowohl für Produkte mit als auch ohne medizinische Zweckbestimmung.
  • Einige Produkte ohne medizinische Zweckbestimmung sind anders klassifiziert als die entsprechenden Produkte mit medizinischer Zweckbestimmung.

Inhalt

Was sind “Anhang XVI Produkte”?

Anhang XVI der Verordnung (EU) Nr. 2017/745 über Medizinprodukte (EU-MDR) enthält eine Liste von sechs Produktarten, die trotz fehlender medizinischer Zweckbestimmung unter die EU-MDR fallen.

Die EU-Kommission war der Ansicht, dass Produktgruppen, die Medizinprodukten ähnlich sind, denen der Hersteller aber nur einen ästhetischen oder anderen nichtmedizinischen Zweck zuschreibt, trotzdem von der EU-MDR erfasst werden sollten. Grund dafür sind die Ähnlichkeit zu Medizinprodukten in Bezug auf Funktionalität und Risikoprofil. Die Person, an welcher solche Produkte angewendet werden, geht Risiken ein, ohne dass ein objektiver Nutzen nachgewiesen werden kann. Sie sollte daher ähnlich wie ein Patient geschützt werden. Gefährdungen können entstehen durch:

  • den chirurgischen Eingriff (Anästhesie, Infektion, Blutung, Zugang, Verschluss, Heilung/Narbe)
  • Gewebekontakt (dauerhaft oder vorübergehend) mit einem Fremdkörper oder einer Substanz
  • Modifikation oder Entfernung von Gewebe
  • Zuführen von Energie

In der englischen Ausgabe der EU-MDR werden diese Produkte als “devices” bezeichnet, was sie grundsätzlich den Medizinprodukten gleichsetzt, wenn auch als eine besondere Kategorie innerhalb der Medizinprodukte.

Die untenstehende Tabelle enthält die Liste der in Anhang XVI aufgeführten Produktgruppen sowie einige Produktbeispiele:

Gruppe

Beispiele

Kon­takt­lin­sen oder an­dere zur Ein­füh­rung in oder auf das Auge be­stim­mte Ar­tikel.

Far­bige Kon­takt­lin­sen

Pro­duk­te, die dazu be­stimmt sind, durch chi­rur­gisch-in­va­sive Ver­fah­ren zum Zwecke der Modi­fi­zie­rung der Ana­tomie oder der Fi­xierung von Kör­per­tei­len voll­stän­dig oder teil­weise in den mensch­lichen Kör­per ein­ge­führt zu wer­den, mit Aus­nahme von Täto­wie­rungs- und Pier­cing­pro­duk­ten.

Feste, die Kör­per­kon­tur ver­än­dernde Im­plan­tate (z.B. Brust­imp­lan­tate)

Stoffe, Kom­bi­na­tio­nen von Stof­fen oder Ar­tikel, die zur Ver­wen­dung als Gesichts- oder sons­tige Haut- oder Schleim­haut­fül­ler durch sub­kutane, sub­muköse oder intra­kutane In­jek­tion oder an­dere Ar­ten der Ein­füh­rung be­stimmt sind, mit Aus­nahme der­je­nigen für Täto­wie­rungen.

Der­mal­füller

Geräte, die zur Redu­zie­rung, Ent­fer­nung oder Zer­set­zung von Fett­gewebe be­stimmt sind, wie etwa Ge­räte zur Lipo­suk­tion, Lipo­lyse oder Lipo­plas­tie.

Kör­per­formungs­geräte

Für die An­wen­dung am mensch­lichen Kör­per be­stimmte Geräte, die hoch­inten­sive elektro­magne­tische Strah­lung (Infra­rot­strah­lung, sicht­bares Licht, ultra­vio­lette Strah­lung) ab­geben, kohä­rente und nicht­kohä­rente Licht­quellen sowie mono­chro­ma­tisches Licht und Licht im Breit­band­spek­trum ein­geschlos­sen, etwa Laser und mit inten­siv gepuls­tem Licht arbei­tende Geräte zum Ab­tragen der oberen Haut­schich­ten („skin resur­facing“), zur Tattoo- oder Haar­ent­fer­nung oder zu an­deren Formen der Haut­be­hand­lung.

Geräte mit in­ten­sivem gepuls­tem Licht (IPL) (z.B. zur Haar­ent­fernung)

Geräte zur trans­kra­niel­len Stimu­lation des Gehirns durch elek­trischen Strom oder mag­ne­tische oder elek­tro­mag­ne­tische Felder zur Än­derung der neuro­nalen Akti­vität im Gehirn.

Trans­kra­nielle Sti­mu­la­tions­geräte (chi­rur­gisch nicht-invasiv) für nicht-medi­zi­nische Zwecke

Gemäss EU-MDR Art. 1 Abs. 5 ist die EU-Kommission befugt, delegierte Rechtsakte zu erlassen, die der Liste in Anhang XVI neue Produktgruppen hinzufügen würden.

Was geschieht mit “Anhang XVI – Produkten”, die auch einen medizinischen Zweck haben?

Da Anhang XVI – Produkte keine medizinische Zweckbestimmung haben, müssen sie normalerweise keinen klinischen Nutzen nachweisen, sondern nur Sicherheit und Leistung. Bei Kontaktlinsen zur Veränderung der Augenfarbe muss beispielsweise kein klinischer Nutzen nachgewiesen werden.

Wenn das Anhang XVI – Produkt jedoch auch einen medizinischen Zweck hat, z.B. farbige Kontaktlinsen mit optischer Korrektur, dann muss auch der klinische Nutzen nachgewiesen werden. Produkte mit sowohl medizinischer als auch nichtmedizinischer Zweckbestimmung müssen alle Anforderungen kumulativ erfüllen.

Wie werden “Anhang XVI – Produkte” eingestuft?

Im Allgemeinen werden Anhang XVI – Produkte gemäss den Klassifizierungsregeln in Anhang VIII der EU-MDR eingestuft. Zubehör zu Anhang XVI – Produkten fällt ebenfalls unter die EU-MDR und ist gemäss Anhang VIII Kapitel II 3.2 eigenständig zu klassifizieren.

Da sich die Klassifizierungsregeln 9 und 10 in Anhang VIII auf eine medizinische Zweckbestimmung (Therapie oder Diagnose) beziehen und aktive Produkte ohne medizinischen Zweck nicht berücksichtigen, wurden einige Ausnahmen gemacht. Diese sind in der Verordnung (EU) 2022/2347 über die Neueinstufung von aktiven Anhang XVI – Produkten dokumentiert.

Gemäss der Verordnung (EU) 2022/2347 werden die folgenden Gruppen aktiver Produkte des Anhangs XVI neu eingestuft:

  • Produkte, die elektromagnetische Strahlung hoher Intensität aussenden und zur Anwendung am menschlichen Körper zur Hautbehandlung bestimmt sind, werden der Klasse IIb zugeordnet, es sei denn, sie sind nur zur Haarentfernung bestimmt. In diesem Fall werden sie der Klasse IIa zugeordnet.
  • Produkte, die zur Reduzierung, Entfernung oder Zerstörung von Fettgewebe bestimmt sind, werden der Klasse IIb zugeordnet.
  • Produkte zur Hirnstimulation, die elektrische Ströme oder magnetische oder elektromagnetische Felder erzeugen, die den Schädel durchdringen, um die neuronale Aktivität im Gehirn zu verändern, werden der Klasse III zugeordnet.

Benötigen Hersteller von “Anhang XVI – Produkten” ein Qualitätsmanagementsystem (QMS)? Muss dieses von einer Benannten Stelle zertifiziert werden?

Gemäss Art. 10 Abs. 9 der EU-MDR müssen Hersteller von Produkten, bei denen es sich nicht um Prüfprodukte handelt, “ein Qualitätsmanagementsystem einrichten, dokumentieren, anwenden, aufrechterhalten, ständig aktualisieren und kontinuierlich verbessern, das die Einhaltung dieser Verordnung auf die wirksamste Weise sowie einer der Risikoklasse und der Art des Produkts angemessenen Weise gewährleistet.” Diese QMS-Anforderung gilt für Anhang XVI – Produkte, da sie in der EU-MDR grundsätzlich den Medizinprodukten gleichgesetzt sind.

«Hersteller von Anhang XVI – Pro­duk­ten müs­sen über eine für die Ein­hal­tung der Rechts­vor­schrif­ten ver­ant­wort­liche Per­son ver­fügen.»

Die EU-MDR verlangt für Anhang XVI – Produkte die gleichen Konformitätsbewertungsverfahren wie für andere Medizinprodukte. Die Konformitätsbewertung richtet sich nach der Risikoklasse des Produkts, die gemäss den Regeln in Anhang VIII der EU-MDR festgelegt wird, mit Ausnahme derjenigen Anhang XVI – Produkte, die gemäss der Verordnung (EU) 2022/2347 reklassifiziert wurden.

Die Hersteller von Anhang XVI – Produkten müssen über eine für die Einhaltung der Rechtsvorschriften verantwortliche Person (PRRC) gemäss EU-MDR Artikel 15 verfügen. Die PRRC muss über die gleichen Qualifikationen durch Ausbildung und/oder Erfahrung verfügen, wie sie für Medizinprodukte erforderlich sind.Mehr über QMS für Medizinprodukte erfahren Sie in unserem Blogbeitrag Qualitätsmanagement-System nach ISO 13485 zertifizieren.

Welche EU-MDR Anforderungen gelten für “Anhang XVI – Produkte”?

Es gibt für Anhang XVI – Produkte nur sehr wenige Ausnahmen von den EU-MDR Anforderungen. 

Alle Abweichungen und besonderen Ansätze, die für Anhang XVI – Produkte gelten, sind in den entsprechenden Gemeinsamen Spezifikationen (CS) dokumentiert, die in der Verordnung (EU) Nr. 2022/2346 veröffentlicht wurden. Dazu gehören produktspezifische Anforderungen in Bezug auf Risikomanagement, Sicherheitsanforderungen und Sicherheitsinformationen (d.h. Kennzeichnung und Gebrauchsanweisung).

Da Anhang XVI – Produkte keinen medizinischen Zweck haben, kann von ihnen kein klinischer Nutzen erwartet werden; lediglich Sicherheit und Leistung müssen nachgewiesen werden.

Produkte, die sowohl für medizinische als auch für nichtmedizinische Zwecke bestimmt sind, müssen alle relevanten EU-MDR-Anforderungen erfüllen.

Gemäss Art. 61 Abs. 9 der EU-MDR ist die Anforderung, einen klinischen Nutzen nachzuweisen, als Anforderung zu verstehen, die Leistung des Produkts nachzuweisen. Daher müssen klinische Bewertungen von Anhang XVI – Produkten auf relevanten Daten zur Sicherheit beruhen, wozu auch Daten aus der Überwachung nach dem Inverkehrbringen, PMCF-Daten und gegebenenfalls Daten aus klinischen Prüfungen gehören. “Bei diesen Produkten kann nur auf die Durchführung klinischer Prüfungen verzichtet werden, falls es ausreichende Gründe dafür gibt, auf bereits vorhandene klinische Daten zu einem analogen Medizinprodukt zurückzugreifen.”

Hinsichtlich der grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen (GSPR) in Anhang I der EU-MDR, die alle Produkte erfüllen müssen, wird eine spezielle GSPR Nr. 9 eingeführt, die sich mit der Frage befasst, wie das Nutzen-Risiko-Profil bei Anhang XVI – Produkten berücksichtigt werden soll. GSPR Nr. 9 besagt, dass die GSPR Nr. 1 und Nr. 8 so zu verstehen sind, “dass von dem Produkt bei seiner Verwendung gemäss den vorgesehenen Bedingungen und seiner Zweckbestimmung sowie unter Wahrung eines hohen Schutzniveaus für die Gesundheit und Sicherheit von Personen kein Risiko oder kein höheres als das höchstzulässige Risiko ausgehen darf.”

Beachten Sie jedoch, dass Produkte, die sowohl für medizinische als auch für nichtmedizinische Zwecke bestimmt sind, alle relevanten EU-MDR-Anforderungen erfüllen müssen.

Weitere Einzelheiten zur Einhaltung der EU-MDR finden Sie im Blogbeitrag Wie man eine CE-Kennzeichnung für ein Medizinprodukt erhält.

Wann müssen die Hersteller von “Anhang XVI – Produkten” tätig werden?

Hersteller sollten umgehend prüfen, ob für ihre Anhang XVI – Produkte Übergangsfristen gelten.

Die EU-MDR gilt für Anhang XVI – Produkte ab dem Datum der Anwendung der Gemeinsamen Spezifikationen (CS), die im Dezember 2022 in der Verordnung (EU) Nr. 2022/2346 veröffentlicht wurden. Dabei wurden für gewisse Anhang XVI – Produkte Übergangsfristen eingeführt.

Für Anhang XVI – Produkte, die keine Beteiligung einer Benannten Stelle gemäss EU-MDR erfordern, gibt es keine Übergangsfristen. Diese Produkte müssen ab dem Datum der Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 2022/2346, d.h. dem 22. Juni 2023, der EU-MDR entsprechen.

Für Anhang XVI – Produkte, die eine Benannte Stelle benötigen, gilt die EU-MDR ab den folgenden Daten, unabhängig davon, ob sie zuvor als Medizinprodukte CE-gekennzeichnet waren (und eine gültige Bescheinigung der Benannten Stelle gemäss der MDD besitzen) oder nicht:

  • Falls der Hersteller eine klinische Prüfung plant oder durchführt: Die ursprüngliche Frist 22. Juni 2028 wird nun bis zum 31. Dezember 2029 verlängert.
    Um diese Frist in Anspruch nehmen zu können, muss der Hersteller jedoch bis zum 1. Januar 2028 eine schriftliche Vereinbarung mit einer Benannten Stelle für die Konformitätsbewertung unterzeichnet haben.
  • Falls der Hersteller keine klinische Prüfung plant: Die ursprüngliche Frist 22. Juni 2025 wird nun verlängert bis zum 31. Dezember 2028.
    Ähnlich wie bei der vorherigen Frist muss der Hersteller spätestens am 01. Januar 2027 eine schriftliche Vereinbarung mit einer Benannten Stelle für die Konformitätsbewertung unterzeichnet haben.

Die Übergangsfristen sind an Bedingungen geknüpft, insbesondere daran, dass das Anhang XVI – Produkt vor dem 22. Juni 2023 rechtmässig in Verkehr gebracht wurde und dass keine wesentlichen Änderungen an seinem Produktdesign und seiner Zweckbestimmung vorgenommen werden.

Wie Decomplix helfen kann

Decomplix berät Sie in allen regulatorischen und Qualitätsmanagement-Fragen rund um Medizinprodukte, mit besonderem Fokus auf den Schweizer Markt und die CE-Zertifizierung. Wir unterstützen Ihr Unternehmen dabei, alle Anforderungen der EU-MDR oder IVDR zu erfüllen und die Konformität auf die effizienteste Art und Weise sicherzustellen.

Darüber hinaus bieten wir Dienstleistungen als Schweizer Bevollmächtigter nach MepV und IvDV. Unsere Dienstleistungen umfassen Anleitungen und Checklisten, damit Sie die geltenden Anforderungen verstehen.
Wenn Sie Ihre Anliegen mit uns besprechen möchten, zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren.

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