Klinische Bewertung von Medizinprodukten nach der EU MDR

Die Konformitätsbewertung eines Medizinprodukts unter der EU-MDR erfordert den Nachweis, dass die grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen (GSPR) eingehalten werden. Dazu gehört auch eine klinische Bewertung (Artikel 5).

In der klinischen Bewertung müssen die grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen (englisch: GSPR) bei normaler, bestimmungsgemässer Verwendung eines Medizinprodukts geprüft sowie unerwünschte Nebenwirkungen und die Vertretbarkeit des Nutzen-Risiko-Verhältnisses «auf der Grundlage klinischer Daten, die einen ausreichenden klinischen Nachweis bieten» beurteilt werden (Artikel 61 (1)).

Als Teil der klinischen Bewertung soll der klinische Nutzen «anhand aussagekräftiger, messbarer und patientenrelevanter klinischer Ergebnisse» aufgezeigt werden. Diese Ergebnisse werden mittels klinischer Daten über das Produkt ermittelt. Klinische Daten sind für eine erfolgreiche Konformitätsbewertung deshalb eine notwendige und entscheidende Voraussetzung. 

Inhalt: 

Klinische Daten und Quellen für die Konformitätsbewertung

Klinische Daten beziehen sich auf Informationen zur Sicherheit und Leistung, die aus der  

  • Verwendung eines Produkts, oder
  • eines Produkts, für das Gleichartigkeit zu ebendiesem nachgewiesen werden kann,

gewonnen werden, und die aus folgenden Quellen stammen:

  • klinische Prüfung(en) oder
  • sonstige in der wissenschaftlichen Fachliteratur wiedergegebene Studien,
  • in nach dem Peer-Review-Verfahren überprüfter wissenschaftlicher Fachliteratur veröffentlichte Berichte sowie
  • klinisch relevante Angaben aus der Überwachung nach dem Inverkehrbringen, insbesondere aus der klinischen Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen (Artikel 2 (48)).

Um die Produktkonformität mit den entsprechenden GSPR nachzuweisen, müssen Hersteller die Eignung, die Qualität und Quantität der verwendeten klinischen Datenquellen und den benötigten «Umfang des klinischen Nachweises» im Hinblick auf die Merkmale des Produkts und seiner Zweckbestimmung begründen (Artikel 61(1)). Dieser Aspekt wird im Dokument MDCG 2020-6 guidance on legacy devices ausgeführt.

Klinische Datenquellen werden anhand ihres «Umfangs des klinischen Nachweises» (Anhang III von MDCG 2020-6) bewertet. Zuoberst in der Hierarchie sind hochwertigen Daten aus den oben genannten Quellen, die als Quellen mit hohem «Umfang des klinischen Nachweises» oder als pivotale klinische Datenquellen gelten. Wichtig ist zu beachten, dass für implantierbare sowie Klasse-III-Produkte die klinischen Daten aus diesen hochwertigen Datenquellen vom zu bewertenden, also nicht nur von einem «gleichartigen» Produkt, bestehen müssen.

Niedriger gewichtete Datenquellen können einen nicht-pivotalen, unterstützenden klinischen Nachweis erbringen. Sie umfassen die Einhaltung von Normen/Gemeinsamen Spezifikationen (GS) sowie vorklinische Tests und Daten von generischen Produkten in derselben Klasse wie das zu bewertende Produkt. 

Eine Ausnahme bilden Produkte, bei welchen aufgrund «bewährter Technologie» Datenquellen niedriger gewichteten «Umfangs des klinischen Nachweises» genutzt werden dürfen, um die Konformität zu bewerten. Solche Produkte müssen ein einfaches, gängiges und stabiles Design sowie eine bewährte Leistung und Sicherheit innerhalb der generischen Produktgruppe aufweisen und schon lange auf dem Markt sein. Dies trifft meist auf Produkte der Klasse I und/oder Produkte zu, deren Einsatz dem Behandlungsstandard entspricht.

Was ist ein «gleichartiges» Produkt und ist es das gleiche wie ein «Vorgängerprodukt»?

Vereinfacht gesagt ist ein «gleichartiges» Produkt unter der EU-MDR ein einzelnes Produkt mit ähnlichen technischen Merkmalen und denselben biologischen und klinischen Merkmalen wie das zu bewertende Produkt. Um Gleichartigkeit zu bestätigen, sollte ein Direktvergleich der technischen, biologischen und klinischen Parameter vorgenommen werden, wie es in Annex I von MDCG Guidance 2020-5 Clinical Evaluation – Equivalence vorgeschlagen wird. Wichtig ist, dass zwischen den beiden Produkten die Unterschiede der relevanten Merkmale identifiziert werden und für jeden Unterschied eine wissenschaftliche Begründung vorgelegt wird, weshalb dieser auf die Leistung und Sicherheit keine nennenswerten klinischen Auswirkungen hat.

Zudem «muss eindeutig nachgewiesen werden, dass die Hersteller über einen hinreichenden Zugang» zu den relevanten Daten über das gleichartige Produkt verfügen. Da Daten zu den technischen Merkmalen meist nur in internen Dokumentationen im Detail vorliegen, ist Zugang zu diesen Informationen oft nicht möglich. Bei implantierbaren Produkten und solchen der Klasse III entspricht diese Anforderung einem vertraglich vereinbarten vollständigen und permanenten Zugang zur Technischen Dokumentation des gleichartigen Produkts.

Daraus folgt, dass die Gleichartigkeit gemäss der EU-MDR nicht automatisch mit Begriffen gleichgesetzt werden sollte, die in anderen regulatorischen Bestimmungen und Texten verwendet werden. In den USA sind beispielsweise die Begriffe «predicate devices» oder «substantially equivalent devices», sogenannte Vorgängerprodukte, anzutreffen. Solche Produkte können die Zulassung auf dem US-Markt unterstützen, jedoch haben die höheren Anforderungen an Gleichartigkeit in der EU zur Konsequenz, dass Produkte, die in den USA als «predicate» oder «substantially equivalent» eingestuft werden, in der EU nur als «ähnliche» Produkte gelten. Als «ähnliche» Produkte gelten unter der EU-MDR Produkte mit gemeinsamen Merkmalen, die zur gleichen generischen Produktgruppe gehören. Dies bedeutet, dass es bei einigen Produkten nicht mehr möglich ist, diese unter der EU-MDR als gleichartige Produkte heranzuziehen, obwohl dies unter der MDD noch möglich war.

«Ähnliche» Produkte können für verschiedene Aspekte des klinischen Bewertungsprozesses herangezogen werden, so zum Beispiel zur Unterstützung der beobachteten klinischen Leistung und Sicherheit des zu bewertenden Produkts oder auch als Referenzprodukt zur Ermittlung des Stands der Technik. Jedoch können die klinischen Daten von «ähnlichen» Produkten nicht als Teil des klinischen Nachweises der Leistung und Sicherheit des zu bewertenden Produkts herangezogen werden. 

Two People talking

Die EU-MDR definiert, dass klinische Prüfungen in EU-Mitgliedstaaten durchgeführt werden sollen, um Daten für die Produktkonformitätsbewertung zu erheben (Artikel 62).

Was unterscheidet eine klinische Validierung von Studien über die Gebrauchstauglichkeit und Machbarkeit (Usability/Feasibility)?

Klinische Validierung ist ein Begriff im Zusammenhang mit medizinischer Software (Medical Device Software MDSW) / Software als Medizinprodukt (Software as a Medical Device (SaMD)). Er wird vom International Medical Device Regulators Forum (IMDRF) wie folgt definiert wird: Der Begriff beschreibt den Vorgang der Prüfung, ob die MDSW den angestrebten, klinisch aussagekräftigen Output erbringt, der mit der gewünschten Gesundheitssituation oder dem gewünschten Gesundheitszustand übereinstimmt. 

Klinische Validierung ist für jegliche MDSW verpflichtend. Denn sie beweist, dass die Leistung der Software in den vorgesehenen klinischen Anwendungsumgebungen der nachgewiesenen analytischen/technischen Leistung entspricht. Die klinische Validierung wird vor der Markteinführung durchgeführt und nach der Markteinführung fortgesetzt. Dagegen finden analytische/technische Verifizierungs- und Validierungsmassnahmen während der Entwicklung der Software statt, um die technische Performance, insbesondere die Genauigkeit und Zuverlässigkeit vor der klinischen Validierung zu belegen.

Usability Studien/Tests oder Gebrauchstauglichkeitstests (auch als Human Factors Tests bezeichnet) beziehen sich auf Aktivitäten, bei welchen die Einhaltung der internationalen Norm für Gebrauchstauglichkeit von Medizinprodukten nachgewiesen werden soll: IEC 62366. Dafür wird die Kompetenz der vorgesehenen AnwenderInnen eines Medizinprodukts bewertet, dieses in einem erwarteten Anwendungskontext zu verwenden. Dabei ist das Ziel, Risiken und Einschränkungen zu identifizieren, welche die vorgesehenen AnwenderInnen an der angemessenen Nutzung des Produkts hindern könnten. Durch die Ergebnisse der Usability Tests sollen Hersteller Massnahmen ergreifen können, diese Aspekte im finalen Produkt und ihrer Nutzung zu beseitigen oder zu minimieren. Sobald die EN 62366 mit der EU-MDR harmonisiert ist, kann die Norm zum Nachweis verwendet werden, dass die Usability-Anforderungen aus der EU-MDR erfüllt sind.

Feasibility-Studien oder Machbarkeitsstudien (auch als explorative Studien bezeichnet) sind hingegen kleine klinische Versuche, die in frühen Phasen der Medizinproduktentwicklung durchgeführt werden, um die vorläufige Sicherheit und Wirksamkeit eines Produkts zu ermitteln. Machbarkeitsstudien dienen der Planung von pivotalen oder bestätigenden klinischen Prüfungen, wo klinische Daten gewonnen werden sollen, um die Sicherheit und Leistung des Produkts zu belegen. Sowohl Machbarkeitsstudien als auch pivotale klinische Prüfungen sollen gemäss EU-MDR Artikel 62, Anhang XV und der Norm zu klinischer Prüfung von Medizinprodukten an Menschen – Gute klinische Praxis (EN ISO 14155:2020) durchgeführt werden. Bei Produkten der Klasse III und bei implantierbaren Produkten sind Produktdaten aus vom Hersteller gesponserten klinischen Prüfungen erforderlich.

Können klinische Daten von ausserhalb der EU durchgeführten Studien für das MDR-Konformitätsbewertungsverfahren genutzt werden?

Die EU-MDR definiert, dass klinische Prüfungen in EU-Mitgliedstaaten durchgeführt werden sollen, um Daten für die Produktkonformitätsbewertung zu erheben (Artikel 62). Klinische Prüfungen müssen gemäss EN ISO 14155:2020 durchgeführt werden (siehe oben). Sie müssen über eine Bewilligung einer Ethikkommission verfügen, die Anforderungen an eine Einwilligung nach Aufklärung und zudem die lokalen Anforderungen des EU-Mitgliedstaats, in dem sie durchgeführt werden, erfüllen.

Die EU-MDR geht nicht weiter auf klinische Prüfungen ein, die unter anderen Regulatorien durchgeführt werden. In der IMDRF Guidance on clinical evaluation (N56:2019, Appendix D) wird jedoch festgehalten, dass klinische Daten unter anderen Rechtsordnungen berücksichtigt werden können, wenn sie folgende Bedingungen erfüllen: Die Daten stammen aus klinischen Prüfungen die nach ethischen Grundsätzen und gemäss Good Clinical Practice (GCP) durchgeführt wurden. Das IMDRF weist aber darauf hin, dass die Erfüllung dieser Bedingungen auch davon abhängt, ob eine klinische Prüfung nach denselben regulatorischen Standards durchgeführt wurde. Und die Zielgruppe und die bestimmungsgemässe Verwendung denjenigen Regulatorien entspricht, worunter das Produkt auf den Markt kommen soll.

Daraus folgt, dass klinische Prüfungen ausserhalb der EU gemäss ISO 14155:2020 (und EU-MDR Anhang XV) durchgeführt werden müssen. Etwaige Unterschiede dürfen dabei keine klinisch relevanten Auswirkungen auf die gewonnenen klinischen Daten haben. Ausserhalb der EU gewonnene klinische Daten müssen daher kritisch geprüft werden, wobei wissenschaftlich begründet werden muss, weshalb regionale, intrinsische und extrinsische Faktoren wie genetische Besonderheiten oder Krankheiten keinen Einfluss auf die Aussagekraft der klinischen Daten und die Schlussfolgerungen in Bezug auf die vorgesehene Anwendergruppe und die vorgesehene klinische Verwendung haben.

Welche Stichprobengrösse brauche ich für meine Studie? 

In der EU-MDR wird kein konkreter Umfang für die Stichprobengrösse vorgegeben, weil diese von vielen Variablen abhängt. Sie wird so berechnet, dass zuverlässige und statistisch aussagekräftige Resultate erzielt werden können, die auch unerwartete oder nicht auf das Produkt zurückzuführende Schwankungen berücksichtigen. Dies können beispielsweise Teilnehmende sein, die aus der Studie ausscheiden oder für die Nachbeobachtung nicht mehr zur Verfügung stehen. Solche Fehlerquellen haben einen Einfluss auf die statistische Aussagekraft der beurteilten Leistungs- und Sicherheitsergebnisse/-endpunkte des Produkts. Dementsprechend hält die EU-MDR fest, dass die Stichprobengrösse auf Grundlage einer Leistungsberechnung der klinischen Prüfung festgelegt werden muss (Anhang XV.)

Die Aussagekraft einer klinischen Prüfung ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Studie einen tatsächlichen, vorab definierten Unterschied in der Messung (Endpunkt) zwischen zwei Gruppen nachweisen kann. Die Aussagekraft wird durch die Grösse des zu erwartenden Unterschieds in den Endpunkten, der Stichprobengrösse und der Wahrscheinlichkeit falsch positiver oder falsch negativer Fehler beeinflusst. 

Für die Bestimmung der Stichprobengrösse, die benötigt wird, um einen tatsächlichen, statistisch signifikanten Unterschied bei einem festgelegten Endpunkt zu bestätigen, muss eine Annahme über die zu erwartende Grösse des zu messenden Endpunkts gemacht werden. Dies erfordert den sorgfältigen Einbezug vorklinischer oder explorativer klinischer Daten für das Produkt und bereits veröffentlichter klinischer Daten für ähnliche/vergleichbare Produkte. Unzureichend definierte Endpunkte können zu verschiedenen negativen Ergebnissen führen, unter anderem zum Nichtgelingen der Studie aufgrund zu kleiner Stichprobengrösse, oder zu unnötigen Kosten aufgrund einer zu grossen Stichprobengrösse.

Wie kann Decomplix helfen?

Für den Zugang zu Ihren Zielmärkten ist das Verständnis der Anforderungen an klinische Daten entscheidend. Haben Sie beispielsweise Fragen, welche klinischen Daten für eine erfolgreiche Konformitätsbewertung Ihres Produkts in der EU benötigt werden? Unser Expertenteam unterstützt Sie gerne bei der Entwicklung Ihrer regulatorischen Strategie sowie bei spezifischen Fragen zu klinischen Daten, klinischen Bewertungsberichten und klinischen Prüfungen.

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